Wie Till Eulenspiegel Weihnachten gestohlen hat.
Eine sanfte, weiße Pracht aus Schnee, bedeckte die Stadt Sterkdam in Holland. Es war der Tag vor Weihnachten, die Menschen waren jedoch von Trauer erfüllt. Es herrschte Krieg zwischen Holland und Spanien, und hunderte erboste Artilleristen, bewaffnet mit Flinten und Schwertern, hatten die Stadt umringt. Zwölf große Kanonen beschossen die Stadtmauern mit eisernen Kugeln, Häuser wurden beschädigt, Schornsteine zerbarsten. Ergeben kam allerdings für die mutigen Einwohner von Sterkdam nicht infrage.
Die Stadttore waren verriegelt, sodass die Soldaten nicht hineinstürmen konnten, doch die spanischen Kämpfer ließen auch keine Menschenseele aus der Stadt heraus. Jedermann war hungrig, da die Lebensmittel allmählich knapp wurden. Ganz gleich, ob es der Bürgermeister in seinem feinen Haus war oder ein Gefangener im Gemeindegefängnis - alle hatten Hunger.
Der Gefangene hörte auf den Namen Till Eulenspiegel. Man erzählte sich, er vermöge die Eier unter einem Huhn stehlen oder auch die Brille von deiner eigenen Nase. In der holländischen Stadt gab es jedoch nicht viel zum Stehlen und der Dieb ließ sich verhaften, um Essen und eine Unterkunft für den Winter zu haben. Mittlerweile konnten die Einwohner ihm aber nicht einmal mehr die Rinde eines Brotes zu essen geben. Als er eines Tages aus seinem vergitterten Zellfenster sah, lief ein weinender Junge vorbei.
Till sah zu dem Knaben und fragte:" Warum so traurig?" "Ich habe Hunger"; jammerte der Bube. "Weihnachten kommt und es wird weder Geschenke geben noch ein Weihnachtsessen. Nicht einmal der heilige Nikolaus könnte hierher kommen, mit all diesen Spaniern um unsere Stadtmauern." Till musterte den Knaben. "Vielleicht könnte ich helfen", sprach er. "Bringe mir einen Eimer blauer Farbe und eine Bürste, kehre anschließend schnellstmöglich zurück."
Der Junge eilte davon. Kurz darauf kehrte er mit den Sachen zurück. Till hatte immer eine dünne, lange Schnur bei sich. Nun ließ er diese zwischen den Gitterstäben des Fensters hinunterrollen. "Leg die Bürste in den Eimer und befestige die Schnur an dem Griff"; wies er an. Der Junge tat wie angewiesen und Till zog den Eimer herauf. Er bemalte die Gitterstäbe seiner Zelle blau. Anschließend positionierte er sich in einer Ecke hinter seiner Tür und rief: "Auf Wiedersehen! Ich gehe jetzt!"
Der Wächter rannte herbei und öffnete die Tür. Zuerst sah er das Fenster ohne Gitterstäbe. Diese waren nämlich so blau wie der Himmel dahinter. "Der Gefangene ist geflohen!", rief er und rannte hinfort. Die Zellentür ließ er offen. Till ging zusammen mit einem Bettlaken aus dem Gefängnis zur Stadtmauer. Die kleine eiserne Tür, welche zum Fluss führte, wurde von einem Soldaten bewacht.
Till lief zu ihm und fragte: "Was tust du hier?"
"Meine Anweisungen lauten, niemand hereinzulassen."
"Ausgezeichnet", sprach Till. "Da ich jedoch herinnen bin, kannst du mich ja rauslassen."
Der Soldat öffnete die Tür. "Die Spanier werden dich umbringen", warnte er Till. "Nur wenn sie mich erblicken," antwortete Till. "Aber das werden sie nicht." Er hüllte sich in das Laken und verschwand unsichtbar im weißen Schnee. So ging er bis zum Lager der Spanier, wo die Vorbereitungen für das Weihnachtsessen schon in vollem Gange waren. Till schlich zu der Rückseite eines leeren Zeltes und schlüpfte hinein. Als er durch den Vordereingang herauskam, war er mit einer spanischen Rüstung gekleidet.
Er lief hinüber zu einer Feuerstelle und nahm sich ein Stück Fleisch. Ein Spanier hielt ihn an "Wohin mit dem Fleisch?"
"Es ist für den General", antwortete der Dieb in bestem Spanisch. Er hüllte das Fleisch in einen Umhang und ging anschließend zum nächsten Feuer. Er nahm ein gebratenes Huhn. "Für den General", wiederholte er. Als er nichts mehr tragen konnte, lud er das Essen in einer stillen Ecke ab. Anschließend sammelte er weiter Speisen ein, nahm Ketten von Bratwürsten, große runde Käselaibe, viele Laibe Brot, gebratene Gänse, Lammkeulen, jede Art von Süßigkeiten und dicke Scheiben Rindsbraten.
Aus der Unterkunft des Generals raubte Till einen Kuchen, doch ein Soldat bemerkte ihn: "Halt! Was tust du da?"
"Ein Geschenk für den Hauptmann", log Till und lief weiter. Als die Nacht kam, verließen die Soldaten ihre Wachposten, um zu Abend zu essen. Till lief zur Ersten der zwölf Kanonen. Er entfernte die Kanonenkugel und lud Speisen ins Kanonenrohr.
Die tat er, bis alle zwölf Kanonen mit Essen befüllt waren. Dann ersuchte er den Hauptmann. "Herr Hauptmann", sprach er und salutierte. "Der General befiehlt, heute Abend alle Geschütze abzufeuern, um der Stadt zu demonstrieren, dass wir auch am Weihnachtsabend nicht aufhören. Ich schleiche mich in die Stadt und entzünde eine Fackel im Kirchturm", informierte ihn Till. "Dann richten Sie ihre Kanonen auf das Licht. Es müssen alle gleichzeitig abgefeuert werden."
"Du bist ein mutiger Soldat", bekundete der Hauptmann. "Ich weiß", antwortete Till bescheiden. Er entledigte sich seiner Rüstung und schlich leise wie ein Schatten zu einer Windmühle neben der Stadtmauer.
Till sprang auf den niedrigsten Flügel und ließ sich hoch genug tragen, um auf die Stadtmauer zu springen. Niemand hatte etwas gesehen, denn alles war still. Till kletterte von der Mauer und klopfte an jede Tür. "Wacht auf!" , rief er, "Kommt heraus!"
Fenster öffneten sich und Leute schauten heraus. "Was ist geschehen?" Mit Schwertern, Flinten, Laternen und Fackeln bewaffnet liefen sie auf die Straße, im Glauben, dass die Spanier angriffen.
Till lief mit einer Fackel die Treppe zum Kirchenturm hinauf, wo jeder ihn sehen konnte. "Hört zu!", rief er laut, "der heilige Nikolaus kommt gleich zu uns." "Das ist doch der Dieb Till Eulenspiegel! Verhaftet ihn!", rief der Bürgermeister entsetzt. "Wartet!", entgegnete Till.
Es eilten jedoch einige Männer mit gezückten Schwertern die Treppe zum Kirchenturm hinauf. Till schlug schnell die Tür zu und verriegelte diese. Er lehnte sich zum Kirchturm hinaus und schwenkte seine Fackel als Zeichen. Die Leute trauten ihren Augen nicht, denn sie starrten mit offenen Mündern auf Till.
"Schießt ihn ab" befahl der Bürgermeister. "Er hat mit dem Feind einen Bund!" Die Männer zielten mit ihren Flinten auf den Mann. Doch bevor sie schießen konnten, ertönten die spanischen Kanonen. Statt Kugeln regnete es gebratene Gänse und Hühner, Brotlaibe und Süßigkeiten vom Himmel. Runde Käselaibe hüpften auf den Dächern der Häuser herum. Eine Lammkeule landete in den Armen einer Frau, eine Kette Bratwürste schlang sich um den Hals eines Anderen. Der Kuchen des Generals landete auf dem Kopf des Bürgermeisters.
"Frohe Weihnachten!", rief Till vom Kirchenturm. Die Einwohner jubelten und sammelten den Festschmaus von der staubigen Straße auf. Anschließend entzündeten sie ein Freudenfeuer, man feierte noch, als die Sonne den Himmel rot färbte. Als am Weihnachtsmorgen die Glocken erklangen, tauchte am Horizont eine Artillerie holländischer Soldaten auf. Die Feinde nahmen Reißaus, sie ließen alles zurück, was sie hatten. Das Stadttor öffnete sich und jeder fiel jedem um den Hals.
Am Weihnachtsabend feierte die Bewohner eine große Zeremonie. Der Bürgermeister übergab Till eine goldene Kette, mit einer Medaille. Darauf stand geschrieben "Für den Dieb Till Eulenspiegel, der Weihnachten für die Bewohner von Sterkdam gestohlen hat".
Quelle: https://www.weihnachtsgeschichte.biz/weihnachtsgeschichten
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